Gastbeitrag von Felicitas Blanck, freie Journalistin

​Ensemble der Umewaka Kennōkai Foundation Tōkyō

Durch die Initiative und die Kontakte des Japanisch-Deutschen Zentrums Berlin (JDZB) bot sich dem Berliner Publikum die seltene Gelegenheit, eine Nō-Theateraufführung mit echten Meistern ihres Fachs zu erleben. Im JDZB findet eine Vielzahl interessanter Veranstaltungen mit Japan-Bezug zu den verschiedensten Themen statt. Anfang des letzten Jahres kam das JDZB gemeinsam mit dem Japanischen Kulturinstitut Köln (The Japan Foundation) mit dem Vorschlag zur Aufführung auf Dr. Winrich Hopp, Künstlerischer Leiter des Musikfest Berlin, zu und nach einem intensiven Koordinationsprozess wurde die Aufführung ins Programm des Berliner Musikfests aufgenommen. ​

„Der Nō-Darsteller hat die Aufgabe, zwischen der Welt des Jenseits und der des Diesseits zu vermitteln“, so schrieb der Nō-Meister KANZE Hisao¹ (1925–1978).

Dieser Artikel kombiniert Eindrücke aus der Nō-Aufführung der Umewaka Kennōkai Foundation Tōkyō in der Berliner Philharmonie am 3. September 2019 mit Betrachtungen zum Nō-Theater im Allgemeinen.

Im Text eingestreut sind Zitate aus einem Interview mit der Nō-Schauspielerin Umewaka Norika, die an der Aufführung in der Philharmonie beteiligt war. Da das Nō-Theater traditionell nur von Männern gespielt und erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts sein Tor für Frauen geöffnet hatte, gibt es auch heute nur etwa 200 Nō-Schauspielerinnen. Umewaka Norika hat mit drei Jahren ihre Ausbildung zur Nō-Schauspielerin begonnen und spielt in der Berliner Aufführung in „Die Last der Liebe“ die Hofdame, die die Funktion des Tsure, der Begleitung des Hauptdarstellers Shite hat.

Zeit ist im Nō-Theater das alles beherrschende Element. Anders als in vielen westlichen Theaterstücken ist es kaum möglich, sie zu messen oder zu erfassen. Die Zeit dehnt und streckt sich, sie kann auch schrumpfen, wenn sie in einem Moment hundert Jahre zu überspringen scheint. Sie beherrscht die Erzählung des Stücks, die Musik und den Raum, den die Schauspieler in Zeitlupe oder was wir dafürhalten, durchmessen. Die Bewegungen werden durch die Schläge der Trommel einem Rhythmus unterworfen, in Einheiten geteilt ähnlich den Taktschlägen eines Metronoms. Der gutturale, beschwörende Gesang verstärkt den Eindruck, dass man sich während des Besuchs eines Nō-Stücks in einen Raum völlig jenseits jeder Zeit begibt.

Umewaka Norika über die spirituelle Bedeutung des Nō:
Nō ist ursprünglich ein Ritual für die Götter gewesen, und daher spielen wir auch bereits hinter der Bühne für die Gottheit. Das gilt nicht nur für die Schauspielerinnen und Schauspieler, sondern auch für die, die uns unterstützen. Auch die, die keine Schauspieler oder Musiker sind, alle Menschen die sich mit dem Nō-Stück befassen, leisten einen Dienst an der Gottheit. Deshalb darf man sich auch hinter der Bühne nicht gehen lassen.​

Neben mir in der Nō-Aufführung in der Philharmonie sitzt eine weiße Europäerin, ganz im passenden Stil gekleidet – in einem kimonoartigen Gewand, die Tabi-Socken sitzen perfekt. Man könnte es als kulturelle Aneignung sehen – oder als Begeisterung für eine Kultur, je nach Perspektive.

Das Tōkyōter Ensemble Umewaka Kennōkai zeigt an diesem Abend drei klassische Stücke: „Shōjō-Midare: Sō no mai“ (Der Geist des Reisweins), ein kultisches Nō-Tanzspiel, „Kaminari“ (Der Donnergott), eine Kyōgen-Posse als Intermezzo und abschließend „Koi no omoni“ (Die Last der Liebe), ein dramatisches Nō-Spiel. Jedes Stück hat seine eigene Stimmung, die sich in den Bewegungen und den Kostümen spiegelt.

Das Ensemble besteht aus den Shite-Hauptdarstellern der Umewaka-Familie, den Waki-Nebendarstellern sowie den Kyōgen-Zwischenspielern. Jeder Darsteller ist auf einen bestimmten Rollentyp spezialisiert und stammt aus einer Familie, in der die Kunst der jeweiligen Rolle von Generation zu Generation weitergegeben wird. Dies gilt auch für die Musiker. Sie lernen von klein auf, ihr Instrument bis zur Perfektion zu beherrschen.

Die Umewaka-Familie, die das Ensemble und die zugehörige Stiftung leitet, ist Teil der Kanze-Schule und eine der ältesten Schauspieler-Dynastien Japans: Es gibt bis heute fünf Schulen, aus denen alle Nō-Schauspieler hervorgehen. Jede dieser fünf Schulen geht auf eine Familie zurück, deren Wurzeln weit in die Vergangenheit reichen. Laut der Umewaka Kennōkai Foundation Tokio kann die Familie Umewaka ihren Stammbaum sogar bis ins 8. Jahrhundert zurückverfolgen, bis in die Zeit als der Vorläufer des Nō, das Sarugaku, von China nach Japan gelangte.

Umewaka Norika über ihre Kindheit:
Ich habe Nō quasi schon im Mutterleib miterlebt. Zuhause hatten wir eine Bühne und […] selbst beim Essen hörte man immer irgendwo jemanden den Gesang üben. […] Mein Großvater und mein Vater haben mich das Nō-Spiel gelehrt. Weil ich noch ein Kind war, sagten sie mir, ich solle nicht versuchen, meine Rolle besonders schön auszuschmücken, sondern mich auf die schöne Bewegung und Gestik konzentrieren. Was ich in meinem täglichen Leben mache – wenn ich mich dort nicht schön bewegte oder wenn meine Gedanken abschweifen würden – all das würde sich auf der Bühne widerspiegeln. Also sollte ich versuchen, mein alltägliches Leben besonders gut zu führen. Und ich solle mich auf der Bühne zusammenreißen, ich würde vieles aushalten müssen.

„Shōjō-Midare: Sō no mai“

Das erste Stück, „Der Geist des Reisweins“ spielt im alten China. Es dreht sich um die im Nō-Theater legendäre Figur Shōjō, den Gott des Reisweins. Shōjō schenkt einem treuen Bauern einen Krug mit Reiswein, der niemals leer wird. Es gibt mehrere Legenden um die Figur Shōjō. Die Darsteller tragen immer eine rote Perücke, und die für die Figur typische Maske mit lachendem Mund und in die Stirn hängendem Haar. Sein ekstatischer Tanz ist einer der faszinierendsten Momente des Abends und steigert sich sogar noch, als der Begleiter des Shite, der Tsure, in gleichem Kostüm und Perücke hinzukommt. In diesem Typ Nō-Stück tritt zunächst ein einfach gekleideter Waki-Schauspieler auf. Sein schlichtes, in gedeckten Farben gehaltenes Gewand ähnelt stark den noch heute für Männer üblichen Kimonos. Dieser Nebendarsteller bereitet die Zuschauer auf den Hauptdarsteller vor: Der Shite erscheint in einem aufwändigen, rot-goldenen Brokatkostüm, in dem mehrere Kleidungsstücke in verschiedenen farblichen Schattierungen sich überlagern und insgesamt ein so großes Volumen ausmachen, dass der Shite gegenüber den anderen Schauspielern riesenhaft vergrößert wirkt. Durch das Volumen dieses Kostüms wirkt der Shite wie ein riesiges Standbild, das über die Bühne und die Zuschauer präsidiert.

Umewaka Norika zum Thema Frauen im Nō-Theater:
Wir haben eine sechshundertjährige Tradition in unserer Familie und natürlich wäre es schön, wenn die Kinder, die ich vielleicht einmal haben werde, die Tradition fortführen würden. Und mir ist ganz egal, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird.

„Kaminari“

Das zweite Stück ist ein Kyōgen, eine Posse, und erzählt eine Episode um den Donnergott, der vom Himmel fällt und sich beim Sturz die Hüfte zerrt. Ein junger Heiler findet ihn und behandelt ihn mittels Akupunktur. Im Gegensatz zu dem ernsten Stück sind die Bewegungsabläufe im Kyōgen wesentlich dynamischer. Dafür ist die Musik zurückhaltender, bei den Kostümen dominiert statt Rot jetzt Blau.

In der Pause entdecke ich eine sehr große Frau im Publikum, die einen rotgemusterten Kimono trägt und leuchtend rot gefärbte Haare hat – wie eine Reinkarnation von Shōjō.

Umewaka Norika über die verschiedenen Schulen im Nō:
Es gibt unterschiedliche Schulen innerhalb der Nō-Kunst. Wir gehören der Kanze-Schule an. Diese ist im Vergleich zu anderen Schulen etwas farbenprächtiger und luxuriöser. Auch im Gesang hat man hier höhere Tonlagen als in den anderen Schulen. Dadurch kommt das fröhliche, leuchtende stärker heraus. Auch die Tänze sind zum Teil akrobatischer als in den anderen Schulen. […] Was wir Umewaka Kennōkai, als eine Unterschule der Kanze-Schule jetzt aufführen, ist ein Stil, den mein Großvater kreiert hat. Und mein Urgroßvater hat wahrscheinlich wieder einen etwas anderen Stil gespielt.

„Koi no omoni“

Das dritte Stück wird nach der Pause gezeigt und ist der dramatische Höhepunkt des Abends: „Koi no omoni“ (Die Last der Liebe). Es erzählt die unerwiderte Liebe des alten Gärtners Shōji zu einer eleganten Hofdame. Um sie zu gewinnen, soll er mit einer vermeintlich leichten, in Stoff eingeschlagenen Kiste, den Garten hunderte Male umrunden. Shōji kann das Paket unerklärlicherweise nicht heben und stirbt im Gram darüber, bloßgestellt worden zu sein. In seinen letzten Minuten verflucht er die Hofdame und schwört ihr seine Rache. Als die Hofdame den toten Gärtner auffindet, erstarrt sie wie unter einem schweren Gewicht und kann sich nicht mehr bewegen. In der zweiten Szene des Dramas erscheint der Gärtner als Geist der Hofdame und macht ihr schwere Vorwürfe über ihr Verhalten. Als er sieht wie sie leidet, lenkt er ein und verspricht, ihre Schutzgottheit zu werden.
Zu Beginn trägt ein Helfer die verhexte Kiste auf die Bühne. Es wirkt, als könne auch er das Gewicht kaum bewältigen. Anders als im westlichen Theater sind alle Beteiligten mit auf der Bühne anwesend und agieren im Kontext der Erzählung. Beim Auftritt der Hofdame – gespielt von Umewaka Norika –wird die wichtige Funktion dieser Helfer erneut deutlich: Mittels Befehlen und vorsichtigem Ziehen an ihrem voluminösen Kostüm dirigiert er sie an ihren Platz vorne rechts an der Bühne. Das eindrücklichste Gewand des Abends trägt aber der Shite, nachdem er sich in seinen Geist verwandelt hat. Etliche Lagen goldenen, weißen und schwarzen Brokats lassen den Zuschauer an einen verschneiten Berg denken – vielleicht ein Bild für das Alter, für das Greisentum. Wenn der Shite die Hände hebt, scheint er noch einmal eine Verwandlung durchzumachen, da die Innenseiten der Ärmel im Kontrast zur Außenseite dunkel gefärbt sind. Im Libretto heißt es „Ach tiefer Groll wird offenbar / wie wenn Kuzu-Blätter sich wenden.”

Umewaka Norika über Lampenfieber:
Bei der Kölner Aufführung haben meine Hände gezittert vor Aufregung. Aber die anderen unterstützen mich, sodass ich genug Gelegenheit hatte, mich zu sammeln und die Aufführung gut hinter mich bringen konnte. Mein Großvater hat schon unzählige Male „Die Last der Liebe” gespielt. Aber auch er sagt, dass er jedes Mal einen Konzentrationsschub hat, den er auch braucht, um sich auf die Rolle einzustimmen.

Für den Auftritt des Ensemble Umewaka Kennōkai wurde die Nō-Bühne des Japanischen Kulturinstituts Köln eigens nach Berlin gebracht. In etwa die obere Hälfte der vorderen Pfosten und das Dach wurden weggelassen, damit alle Zuschauerinnen und Zuschauer dem Stück folgen können. Was die Theatergäste sehen, ist im Prinzip ein klassisches japanisches Haus in Holzbauweise, von dem seitlich ein Steg wegführt wie über ein Gewässer. Nicht zuletzt ist die Bühne ein faszinierender Aspekt des Nō-Theaters: Auch ein Shinto-Schrein oder ein traditionelles Wohnhaus sehen nicht viel anders aus und sind weitgehend ähnlich konstruiert. Insoweit haben das Theater in Japan, die Verehrung Verstorbener in Schreinen oder ein traditionelles Bauernhaus mehr miteinander zu tun, als jemand aus dem Westen meinen könnte: Die jeweiligen Gebäude sehen alle sehr ähnlich aus, alles hängt mit allem zusammen.

Umewaka Norika über die Frage, wie man jungen Menschen heutzutage Nō nahebringen kann:
Für uns ist die Aufklärung sehr wichtig und wir sind sehr aktiv in dieser Hinsicht, denn viele japanische Jugendliche kennen Nō nur aus den Schulbüchern. Deshalb gehen wir japanweit in Schulen und bringen eine Bühne mit, die wir in der Turnhalle aufbauen. So können die Schüler dort, wo sie sonst Sport machen, eine echte Nō-Aufführung erleben. Wenn mich jemand nach meinem Beruf fragt, würde ich normalerweise sagen, ich bin Nō-Schauspielerin. Aber ich kann nicht voraussetzen, dass mein Gegenüber weiß, was das ist. Das heißt also, ich muss erst fragen: „Kennen Sie Nō?”und wenn derjenige „Nein” antwortet, dann muss ich es erklären. Das nervt mich schon ab und zu.

Die Faszination, die diese Jahrhunderte alte Theatertradition auf die Menschen ausübt, ist ungebrochen. Durch den Kontakt der Kulturen untereinander können wir viel über uns selbst lernen – wir erkennen uns wieder in Ausdrucksformen, die uns bisher vielleicht gänzlich unbekannt waren. Und so leben über Jahrhunderte hinweg viele Gemeinsamkeiten fort, wie die Suche nach Wahrheit im Spirituellen, die Suche nach Schönheit und nach Frieden.

Die Aufführung war ein Gastspiel im Rahmen der Europa-Tournee 2019 (Zürich– Basel– Köln–Berlin) anlässlich des 50. Gründungsjubiläums des Japanischen Kulturinstituts Köln und 25 Jahre Städtepartnerschaft Tōkyō–Berlin.
Eine Veranstaltung der Berliner Festspiele/Musikfest Berlin und The Japan Foundation/Japanisches Kulturinstitut Köln in Zusammenarbeit mit dem Japanisch-Deutschen Zentrum Berlin.

¹)

Japanische Eigennamen erscheinen nach der in Japan üblichen Reihenfolge „Familienname Vorname“. Die Transkription japanischer Namen und Wörter erfolgt nach der modifizierten Hepburn-Umschrift.

Fotos 3, 4 und 5 Copyright June Ueno, alle anderen Fotos Adam Janisch.